Für jeden Auswanderer stellt sich die Frage, inwieweit er sich in dem neuen Land integrieren möchte. Der Begriff Integration ist dabei durchweg positiv besetzt und wird selten hinterfragt. Wir wünschen uns von den Zuwanderern, die nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz kommen, dass sie sich in unserer Gesellschaft integrieren. Im Umkehrschluss haben wir eine hohe Bereitschaft, uns zu integrieren, wenn wir auswandern.
Aber was genau
bedeutet das? Wir haben unsere Kultur, die Paraguayer haben ihre. Ist nun eine
von beiden besser? Weil es politisch korrekt ist, würden wir wohl spontan
antworten:
„Nein, keine Kultur ist besser als eine andere, Kulturen sind nur
unterschiedlich.“
Wirklich? Ich glaube, dass jede Kultur sich in verschiedenen Stufen entwickelt. Darauf haben viele Faktoren einen Einfluss: So zum Beispiel die Geschichte, das Klima oder die wirtschaftliche Entwicklung.
Nehmen wir einmal Mülltrennung und Recycling. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist beides weit verbreitet, und wir sind stolz darauf. Wenn wir in der freien Natur Müll produzieren, so nutzen die meisten von uns die öffentlichen Mülleimer. Auch Tierschutz besitzt für uns eine große Bedeutung. Wir wissen, dass die Freiheit des Einzelnen nur soweit gehen darf, dass sie die Freiheit anderer nicht einschränkt. So kämen wir zum Beispiel nicht auf den Gedanken, in einem Mehrfamilienhaus nachts um 3:30 Uhr laute Musik zu spielen. Wir nehmen Rücksicht. Mit geliehenen Sachen gehen wir anständig um. Wir sind pünktlich und zuverlässig und wenn uns etwas stört, dann sprechen wir es offen an. Männer und Frauen sind in unserer Kultur grundsätzlich gleichberechtigt, auch wenn wir beim Thema „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ noch ein wenig Arbeit vor uns haben. Im Straßenverkehr gehen wir freundlich miteinander um.
Das alles sind Aspekte unserer Kultur. Natürlich mag es immer Ausnahmen geben. Auch in Deutschland feiert einmal jemand zu laut oder wirft eine Bierdose sorglos in die Natur. Aber komme einmal nach Paraguay und du wirst verstehen was ich meine.
Mülltrennung und Recycling sind hier den meisten Menschen unbekannt. Viele entsorgen ihren Müll auf der Straße oder verbrennen ihn einfach. Es ist an der Tagesordnung, dass du in manchen Nächten nicht oder nur mit Ohrenstöpsel schlafen kannst, weil irgend jemand der Nachbarn wieder die ganze Nacht durch viel zu laut feiert. Männer und Frauen sind auch hier offiziell gleichberechtigt. Wenn meine Frau und ich als Kunden gemeinsam auftreten, so passiert es oft, dass der Verkäufer mir die Hand gibt und ihr nicht. Nicht aus religiösen Gründen, nein, einfach weil es eine Macho-Gesellschaft ist. Warum sollte die Frau im Geschäftlichen wichtig sein? Sie hat ja ohnehin nichts zu sagen, so die vermutete Annahme. Häusliche Gewalt gegenüber Frauen kommt wohl deutlich häufiger vor als in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Und auf den Straßen herrscht Krieg, von Freundlichkeit keine – oder kaum eine – Spur. Termine werden oft vereinbart, aber nicht eingehalten. Pünktlichkeit ist ein Fremdwort.
Was bedeutet das alles nun für Dich als integrationswilligen Neubürger? Musst Du Deine Frau schlagen und Hunde treten, um Dich zu integrieren? Ab sofort Deinen Müll im Vorgarten verbrennen? Am Steuer Deines Autos ab sofort Stoßstange an Stoßstange fahren und nie wieder ein anderes Auto vorlassen? Zebrastreifen komplett ignorieren, so wie es die Paraguayer tun? Statt „nein“ zu sagen, einfach mal Termine vereinbaren und dann nicht kommen? Das möchte ich nicht. In all diesen Punkten sind mir meine europäischen Werte einfacher näher als die paraguayischen.
Zurück zu der Frage von vorhin: Ist unsere Kultur nun besser als die paraguayische? Ich meine nein. Sie ist in vielen Fällen weiterentwickelt und vertritt Werte, mit denen ich mich besser identifizieren kann.
Aber umgekehrt gibt es auch viele Felder, bei denen ich glaube, dass Paraguay uns überlegen ist. Sie haben viel weniger als wir Europäer, und sind doch soviel glücklicher. Sie machen sich einfach weniger Sorgen. In Paraguay hat die eigene Familie eine größere Bedeutung als in unseren europäischen Gesellschaften. Häufiger als bei uns wohnen die Familien räumlich dicht beieinander. In der Schule mussten unsere Kinder einmal ein paraguayisches Volkslied lernen. Im Text ging es darum, wie das perfekte Wochenende aussieht. Die Familie setzt sich ins Auto und fährt zu Oma und Opa. Dort trifft man sich mit Geschwistern, Onkels und Tanten, Großeltern und dem ganzen Rest der Familie. Es gibt leckeres Essen, es wird gespielt und gelacht, gesungen und getanzt. Das ist die paraguayische Vorstellung vom Paradies. Altmodisch? Nein, irgendwie schön.
Es geht mehr um das Lebensgefühl, weniger um Status. Solidarität wird großgeschrieben. Wenn ein Nachbar einmal einen schweren Autounfall hatte und ihm das Geld für eine gute Behandlung im Krankenhaus fehlt, so spenden alle Bewohner des Viertels gerne, so wenig sie auch selber haben. Paraguayer sind auch Fremden gegenüber sehr freundlich und stets hilfsbereit.
Das alles sind Werte, die ich als Zuwanderer gerne übernehme. Für mich ist Auswandern wie ein Buffet, auf dem plötzlich die doppelte Zahl von Leckereien liegt. Ich kann für mich entscheiden, was ich mir auf meinen Teller laden möchte, wo ich Neues probiere und wo ich beim Vertrauten bleibe.
Aber ist das nun Integration oder nicht? Alles eine Frage der Definition. Ich möchte am paraguayischen Leben teilhaben, aber immer das Recht haben, bei meinen Werten zu bleiben. Ich persönlich mag es sehr, einmal bei einem Treffen im Barrio (Stadtviertel) mit den Paraguayern zu palavern. Zu hören, über welche Themen gesprochen wird, was ihre Sorgen und Nöte sind. Auch mal eine europäische Sichtweise zu dem einen oder anderen Thema beisteuern.
Die erste große Barriere dabei ist die Sprache. Ich spreche Spanisch so ca. auf B1 oder B2-Niveau, was in etwa einem anständigen Mittelklasse-Niveau entspricht. Auf solchen Festen fühle ich mich trotzdem wie ein Anfänger. Das paraguayische Spanisch ist schnell und genuschelt. Oft bin ich mir noch nicht mal sicher, ob jemand reines Spanisch spricht oder Jopará, die hiesige Mischung aus Guaraní und Spanisch. Ich erzähle etwas, spreche dabei Spanisch, in ganzen Sätzen und die Grammatik passt so einigermaßen. Mein Gegenüber nimmt das als Zeichen, dass ich ja Spanisch kann und rattert in einem schnellen Kauderwelsch los, von dem ich dann oft nur 5% verstehe. Langsam sprechen können die nicht, auch wenn Du sie 3x darum bittest.
Richtige Integration bedeutet für mich, sprachlich auf dem gleichen Niveau mithalten zu können, auf Spanisch und auf Guaraní. Die Untertöne herauszuhören, zwischen den Zeilen lesen zu können. Das ist erreichbar, aber es setzt eines voraus: Jeden Tag mehrere Stunden eine intensive Beschäftigung mit der Sprache. Das geht, wenn Du einen Lebenspartner mit einer anderen Muttersprache hast oder jeden Tag 8 Stunden in der Sprache arbeitest. Ich habe weder das eine noch das andere. Ich glaube, mit Büchern und CDs alleine wird es schwer.
Neben der Sprache sind es Inhalte, die wichtig sind. Paraguayer sprechen gerne über (paraguayische) Politik, den paraguayischen Sport, insbesondere Fußball und über das Essen. Sie singen, spielen Instrumente, tratschen über Nachbarn. Sie sind stolz auf Ihre Familie und stellen Dir auch gerne noch den Mann der angeheirateten Cousine vor. Manchmal träumen sie, ihr Haus für unverschämt viel Geld zu verkaufen, um dann … Ja, was eigentlich dann? Um dann so weiter zu machen wie bisher.
Findest Du gemeinsame Themen mit den Paraguayern? Mir fällt es noch schwer. Außer dem Präsidenten kenne ich keine Politiker. Zwar bin ich grundsätzlich fußball-interessiert (in Europa), doch wer gerade Tabellenführer der paraguayischen Liga ist und wann die Saison endet weiß ich nicht. Falls es hier einmal historische Spiele geben sollte – ich würde sie verpassen. Das paraguayische Essen? Sie möchten, dass Du alles probierst. Aber wenn ich dann gerade eine Suppe aus Kuh-Gehirn löffle (Rinderwahn lässt grüßen), dann träume ich doch eher von einem Big Mäc.
In Europa war ich bei Diskussionen stolz auf den Tiefgang, den ich mir erarbeitet hatte. Politik, Wirtschaft, Geschichte, Medizin, Psychologie – alles Themen, die mich brennend interessieren und bei denen ich gut mitreden kann. Aber das zählt hier alles nicht. Das sind keine Themen, über die ich mich mit Paraguayern unterhalten könnte. Paraguayische Themen sind irgendwie oberflächlicher, haben weniger Tiefgang. Sie sind nur heute wichtig und morgen vergessen. Doch statt es „oberflächlich“ zu nennen, könnte ich auch sagen, die Themen haben mehr Leichtigkeit. Paraguayer bevorzugen Gute-Laune-Themen statt die Probleme der Welt zu lösen. Was ist falsch daran?
Manchmal denke ich, der Inhalt eines Gespräches ist dem Paraguayer gar nicht so wichtig. Er genießt es einfach, DASS man miteinander spricht. Kommunikation ist Gemeinschaft und Gemeinschaft ist wichtig. Ich gebe zu, dass mir diese Sichtweise noch schwerfällt. Irgendwie finde ich den Inhalt eines Gespräches schon sehr wichtig.
Daher weiß ich für mich: Ich werde nie ein Paraguayer sein, werde niemals perfekt integriert sein. Teréréschlürfend im Schatten des Baumes über die Nachbarn zu tratschen, das liegt mir nicht. Aber das ist in Ordnung. Meine Rolle sehe ich als Mittler zwischen den Kulturen. Ich möchte verstehen, bin neugierig auf jeden Aspekt der paraguayischen Kultur, stelle viele Fragen (und hoffe dann, die Antwort zu verstehen) und probiere auch die Suppe aus Kuh-Gehirn. Mir ist es wichtig, respektvoll mit der hiesigen Kultur umzugehen. Ich akzeptiere sie so wie sie ist, auch wenn sie mal nicht meinen europäischen Werten und Normen entspricht. Ich möchte niemanden ändern, denn das steht mir nicht zu.
Aber ich bin auch bereit, meine Werte hier vorzuleben. Am Steuer unseres Autos sehe ich mich als „Botschafter für mehr Freundlichkeit im Straßenverkehr“. Das mag sich komisch anhören, aber ich stehe dazu. Wenn mich gerade mal wieder jemand anhupt, weil ich ein anderes Auto hereinlasse, dann lächle ich und halte es aus. Und siehe da – neulich hat mir jemand bei dichtem Verkehr das Abbiegen ermöglicht. Vielleicht ist Freundlichkeit im Straßenverkehr ansteckend? Wenn ja, so ist es prima. Und wenn nicht, so kann ich auch damit leben. Ich tratsche nicht über die Nachbarn und drehe nachts keine laute Musik auf. Bei diesen Themen möchte ich europäisch bleiben und Rücksicht nehmen.
Möchtest Du paraguayische Freunde finden oder reichen paraguayische Bekannte? Für echte Freundschaften musst Du schon sehr in die Kultur eintauchen und vor allem die Sprache bzw. die Sprachen auf ein Niveau bringen, dass Du alles verstehst.
Bemerkenswert finde ich, dass wir uns als Europäer gerade im Ausland unserer Werte und Normen bewusstwerden. Ich empfinde hier viel mehr Gemeinsamkeiten mit anderen Europäern, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob es Deutsche, Österreicher oder Schweizer sind oder aber Franzosen, Slowaken oder US-Amerikaner. Letztere sind zwar keine Europäer, doch das europäische Erbe ihrer Kultur kommt mehr durch als in Paraguay.
Schön, dass eine Auswanderung dazu beitragen kann, sich solche Gedanken zu machen!